Totenfeier in der Rungg-Gemeinschaft. Eine der 13 Erzählungen
Kor war mit den anderen jungen Männern der Peterbühl-Gemeinschaft bei der Totenfeier in der Senke zwischen den beiden Anhöhen am Fuß ihres Hügels gewesen. Das Wolfsrudel, das in den kalten Winternächten am Fuß des Hügels streiften und dann, wenn das Auge der Göttin weit geöffnet war, schauerliche Rufe zum Himmel schickten, hatten dieses Mal gnadenlos zugeschlagen. Atrim, sein jüngerer Bruder, hat sich tapfer gewehrt. Doch bevor die Männer zu Hilfe eilen konnten, waren seine Schreie erloschen. Die mit Fackeln bewehrten Männer fanden ihn mit zerfetzter Kehle in einer Blutlache liegen, die sich langsam ausbreitete. Schnee bedeckte die Landschaft und erstrahlte im Licht der Göttin in einem unheimlichen Funkeln. Trotz des klirrenden Frostes hielten drei der Freunde die Totenwache, um die Wölfe fernzuhalten, deren Augen in der Dunkelheit glühten. Am folgenden Tag übernahmen Verwandte die Wache, galt es doch, die auf unbewachte Augenblicke lauernden Raben fernzuhalten. Am Abend wurde der Tote zum Platz des Übergangs zwischen den Hügeln getragen. Die Freunde hatten ein Totenbett aus Ästen und Knüppeln bereitet. Der Leichnam wurde daraufgelegt, während der Priester das Totenlied anstimmte: „Dein Weg war kurz, o Atrim. Dein Haar ist schwarz und dicht, der Bart noch nicht gesprossen. Eine neue Reise hast du angetreten, o Atrim, sie bringe dich ohne Umwege in den Garten der Göttin.“ Alle stimmten ein. Es war ein gewaltiger Refrain aus Männer- und Frauenstimmen, der wie ein tosendes Gewässer durch die kalte Luft der Abenddämmerung fuhr, während der Priester die Fackel an den Holzstoß führte. Blaue Funken sprühten aus dem kienigen Holz, gelbe und rote Flämmchen kletterten das dichte Geflecht an Ästen und Strauchwerk empor, bis der gesamte Holzstoß hellauf loderte und schließlich auch den Leichnam erfasste. Atrim schien sich erst gegen das Flammenmeer zu stemmen, sein Körper bäumte sich auf, bis er schließlich hinter einer lodernden Flammenwand endgültig zur Ruhe kam. Kor wohnte der Bestattung seines Bruders bei. Kein Laut drang aus seiner Kehle. Er war wie erstarrt und ließ die Zeremonie teilnahmslos über sich ergehen. Der Tod war ihm vertraut, wenn Krieger in der Schlucht des Isark mit Eindringlingen kämpften, wenn ein Jäger auf einer Bahre aus Ästen zurück auf den Peterbühl gebracht wurde oder wenn die Göttin die Gemeinschaft mit einer tödlichen Krankheit strafte. Er blickte zum Himmel, der sich violett verfärbt hatte. Der Platz des Sternenbildes der sieben Schwestern war leer. Doch dann, als die Gesänge ihren Höhepunkt erreichten und die an der Totenfeier Beteiligten mit dem Zerschlagen des als Weihegabe mitgebrachten Tongeschirrs anfingen, stieg hinter dem Tschafon das Auge der Göttin auf. Es war ein wundersames Ereignis, das ihm, Kor, allein galt. Die Gemeinschaft hatte das Erscheinen der Gottheit noch nicht bemerkt. Die Göttin lächelte ihm, Kor, ihm ganz allein zu. Ihr Auge war mild und mitfühlend. Die Göttin hatte sich mit ihm in seinem Schmerz verbunden und streichelte mit ihren Lichtfingern über sein Gesicht. „Warum“, entfuhr es Kor, „warum mein Bruder?“ Das Lächeln der Göttin fror ein, und ein leichter Schleier legte sich über das göttliche Auge. Kor vernahm eine weiche und gleichzeitig ernste Stimme, die ihn daran erinnerte, dass das Schicksal der Menschen in der Hand der Götter ruhte. Er wurde aus seinem Zwiegespräch mit der Göttin gerissen, als andere Mitglieder der Gemeinschaft das Auge erblickten und den aus alter Zeit überlieferten Segenswunsch anstimmten: „Rokam, Rait! Schutz, oh Göttin!“ Das Auge schien heller zu strahlen, bevor es von einer Wolke verdeckt wurde und an diesem Abend nicht mehr zu sehen war.
Am nächsten Morgen wurden Atrims verkohlte Überreste in ein Tongefäß gefüllt, das Kors Familie vom Töpfer erstand und mit dem Zeichen der Sippe verziert hatte. Der Topf wurde mit einem Pfropfen verschlossen und mit Wachs von wilden Bienen abgedichtet. Dann wurde es in eine flache Grube im Bereich der Familiengräber gestellt. Bevor die Grube mit Erdreich verschlossen wurde, legten Familienmitglieder und Freunde Andenken ins Grab, Metallgegenstände und Bronzeschmuck. Kor gab dem Bruder sein Eisenmesser mit auf die Totenreise, das er bei seiner Aufnahme in die Gemeinschaft der Männer von den Eltern zum Geschenk erhalten hatte. Hätte er es ihm nur schon vorher geschenkt, dacht er bitter. Dann hätte sich Atrim, der jüngere Bruder, der noch keine Waffe führen durfte, womöglich retten können. Warum musste er auch unbedingt in der Dunkelheit zum Teich hinunter, um Wasser zu holen! Seine kleine Schwester fieberte, und Atrim wollte ihre glühende Stirn mit dem Wasser kühlen. Vater wollte selbst gehen, aber Atrim betrachtete das als Mutprobe, die bei seiner Aufnahme in den Kreis der Männer lobend zur Sprache kommen würde. Bei völliger Dunkelheit Wasser holen, das war ein mutiges Vorhaben, dem auch die Eltern schlussendlich nichts entgegenstellen mochten. Dann dachte Kor wieder an die Göttin, die ihn zurechtgewiesen hatte, als er ihren Ratschluss angezweifelt hatte, und ließ das Grübeln sein.
Atrims Aufgaben übernahm Kor, um sich abzulenken. In der Zeit der Kälte, die hereingebrochen war, bestand sie vor allem darin, Feuerholz zu sammeln und die Schäfte der Eisenwerkzeuge für die Bestellung der Felder und der Pflege der Rebenhänge am südlichen Plateau auszubessern. Der Vater fühlte sich für den Tod seines Sohnes mitverantwortlich, weil er ihn nicht daran gehindert hatte, zum Teich hinunter zu gehen. Verschiedentlich, wenn auch weiter in Richtung des Baches, der vom Opferberg herunterfließt, war das Heulen eines Wolfsrudels zu hören gewesen, das Vater nicht als bedrohlich eingestuft hatte. Da Kor sein Messer dem Bruder mit auf die Totenreise gegeben hatte, dachte der Vater daran, seinen Schwager, den Schmied der Rungg-Gemeinschaft, aufzusuchen, um von ihm für einen Krug Wein und drei Nabelschalen ein neues Messer für seinen Sohn zu erhandeln. Sobald Eis und Schnee zu Wasser geworden waren und die Kälte gebrochen war, würde er sich mit Kor auf den Weg machen und die Reise mit einem Verwandtenbesuch bei seinem Schwager verbinden.
Die wenigen von finsterem Wal d umstandenen Lichtungen hatten ein zartes Grün angesetzt. Etan, der Gott des strahlenden Lichts, war mit Erfolg dabei, die Göttin mit dem leuchtenden Auge, Rait, zurückzudrängen. Die Luft war lau, weiße Wölkchen zogen spielerisch über den Bogen der Götter. Nun war die Zeit gekommen, sich auf den Weg hinüber zur Rungg-Gemeinschaft zu machen. Kors Mutter gab für die Familie ihres Bruders eine geflochtene Wolldecke mit, während der Vater den Tonkrug mit dem kostbaren Wein und mit drei Schalen, die er mit einer Wollschnur zusammenband, schulterte. So nahmen sie Abschied von der Gemeinschaft und stiegen den uralten Weg hinab. Der Bereich zwischen den Hügeln, dem größeren, auf dem die Behausungen der Gemeinschaft standen und dem kleineren, der die Ruhestätte der Toten beherbergte, war sumpfig und ausgesprochen unwegsam. Endlich fanden Vater und Sohn eine Stelle, wo sie trockenen Fußes hinüber zur Totenstätte kamen. Der weitere Weg ließ sich ohne weitere Schwierigkeit bewältigen. Vater und Sohn trugen Fellschuhe, einen Umhang aus brauner Schafwolle und nach Sitte der Väter einen flachen Hut aus verfilzter Wolle. Vater hielt die Enden seines Mantels mit einer prächtigen Bronzefibel zusammen, die ihm bei seiner Vermählung mit seiner Frau von den Verwandten geschenkt worden war. Seine Frau, Kors Mutter Ait, war eine Angehörige der stolzen Rungg-Gemeinschaft, und die Peterbühl-Gemeinschaft wollte bei der Hochzeit in Rungg nicht schlecht dastehen. Kor hingegen war mit einer Art Wollröhre mit Schlitzen für die Arme bekleidet.
Als sie sich nach einiger Zeit der Anhöhe näherten, auf der die unzähligen Behausungen der Rungg-Gemeinschaft standen, bemerkten sie, dass die Luft von dichten Rauchschwaden erfüllt war. Der Rauch strömte einen Geruch aus, den sich Kor nicht erklären konnte. Als er Vater danach fragte, zeigte der nach oben, und nun sah Kor sie auch, die lodernden Feuerstöße am Rand vor dem Abhang, der die Gemeinschaft nach Osten begrenzte. „Nein, Kor“, sagte Vater da, „das ist nicht die Rungg-Gemeinschaft. Was du da siehst, sind die Opferfeuer! Die Gemeinschaft hat ihren Sitz weiter hinten auf der nächsten Anhöhe.“ Dann waren sie angekommen. Die Rungg-Gemeinschaft verfügte über einen mächtigen Schutzwall, der die gesamte Siedlung umgab, sodass niemand unbesehen das Gelände betreten konnte. „Ah du bist es, Lor, Aits Mann!“ grüßte ihn einer der Männer, die am Zugang standen. Kors Vater grüßte den Mann herzlich, und gemeinsam suchten sie die Behausung, in der der Schwager mit seiner Familie, der Frau und den beiden Knaben, lebte. Sie nahmen den abgewinkelten Gang, der den Zugang zum Eingang von bösen Geistern freihalten sollte, und schoben die Holztür auf, die sich in eisernen Angeln drehte. Was für Reichtum! durchfuhr es Kor. Eiserne Angeln waren in der Peterbühl-Gemeinschaft noch nie zur Anwendung gekommen. Die Familie saß im Kreis um die Feuerstelle, die sich in der Mitte des Raumes befand. Die Begrüßung war kurz und herzlich. Die Frau des Schwagers hieß die Beiden am Feuer Platz nehmen und die nassen Fußlappen ausziehen. Die beiden halbwüchsigen Buben kicherten, als sie die überlangen Zehennägel zu Gesicht bekamen. „Dein Schwager ist ja immer am Ausprobieren. Neulich hat er ein kleines Messer geschmiedet eigens für die Pflege der Nägel. Könnt ihr gern ausprobieren“, fügte sie hinzu und schimpfte ein bisschen mit den frechen Buben. Der Schwager lachte nur. „“Hauptsache, ihr werdet trocken“, meinte er, „das ist jetzt einmal das Wichtigste.“ Während sich die Erwachsenen austauschten und dabei nicht auf den mitgebrachten Wein vergaßen, machte sich Kor bald los und ließ sich von den beiden Jungen den eingefangenen Fuchs zeigen, der in einer hölzernen Kiste auf und ab lief und aufgeregt sein helles Bellen hören ließ. „Der ist zahm“, sagte der eine, „den kann ich streicheln.“ Ja“, sagte der andere, „er hat schon lange keinen mehr gebissen“. Die Familie verfügte über einen stattlichen Besitz von elf Schafen. „Eins hat gerade gelämmert“, sagte der Größere fachkundig. „Dann haben wir ein Schaf mehr“.
Beim Essen kam die Rede auf den Brandopferplatz, der Kor brennend interessierte. „Ich habe mit meinem Schwager ausgemacht“, sagte Vater, „dass du bis zum Zeitpunkt, wo Etan am hellsten leuchtet, hier bei der Familie bleibst. Aber ist dir das nicht zu früh nach diesem Unglück mit deinem Bruder? Das ist doch erst drei Rait-Perioden her.“ „Nein nein, Vater“, sagte Kor, „im Gegenteil! Ich will jetzt mehr über den Tod und die Totenreise erfahren. Dann bin ich für das nächste Mal besser vorbereitet.“ „Und was sagt du zu diesem Vorschlag, dass du drei Rait-Perioden hier in der Rungg-Gemeinschaft bleibst?“ „Keine Frage“, entgegnete Kor. „Wer von uns hat schon diese Gelegenheit! Ich freue mich darauf!“ Urt, der Schwager, der ein lustiger Geselle zu sein schien, schmunzelte: „Damit du nicht glaubst, du kannst hier auf Rungg auf der faulen Haut liegen, habe ich mir gedacht, dass du mir beim Schmieden zur Hand gehen kannst." Der Vater und sein Schwager blinzelten sich zu. „Wirklich? Ich glaub’s nicht! Beim Schmieden?? Das glaubt mir auf dem Peterbühl keiner!“ „Ja“, sagte der Vater, als ob ihn das Ganze nicht wirklich interessierte. „Dann könntest du -, ach, Urt, mach du weiter.“ Urt grinste und stocherte mit seinem Zeigefinger in den Backenzähnen herum. „Ich muss nur noch Holz nachlegen. Dann schauen wir weiter.“ Kor spürte, dass sich da etwas Wichtiges anbahnte, wartete aber geduldig, wie es einem Jüngeren geziemte. Als es in der Feuerstelle munter loderte und eine dünne Rauchsäule durch die Öffnung im Gebälk zog, kam er zurück und setzte sich umständlich zu den andern, die ihn gebannt anschauten. Die beiden Knaben wurden ungeduldig, sodass Urt endlich begann: „Lor, dein Vater und ich haben ausgemacht, dass du hier bei mir da Schmiedehandwerk erlernen kannst. Na, was sagst du dazu?“ Kor war im Siebten Himmel. „Ich freue mich so sehr“, rief er. „Nie im Leben hätte ich mir zu träumen gewagt, einmal mit Eisen arbeiten zu dürfen!“ So wurde aus einem Vorschlag Wirklichkeit. Urt schlug vor, dass sich Kor sein Eisenmesser, dessentwegen er und sein Vater ja hierher in die Rungg-Gemeinschaft gekommen waren, selber schmieden dürfe. Nach einer gewissen Zeit des Lernens, natürlich.
Tags darauf nahm Vater Abschied und ließ sich das Versprechen eines Gegenbesuchs geben. Nun war Kor für längere Zeit ein Mitglied der Rungg-Gemeinschaft. Onkel Urt führte ihn in den folgenden Tagen in die Gemeinschaft ein. Dann kam die Zeit, dass sie sich auf den Weg zur Esse in den Wald machten. Onkel Urt war ein stämmiger Mann mit mächtigem Oberkörper und muskulösen Armen. Aus einem schwarzbärtigen Gesicht lugten zwei kleine, stahlblaue Äuglein, umgeben von unzähligen Lachfalten, die verrieten, dass Urt nur eins hasste: Trübsinn und schlechte Laune. Ein braunes Wollhemd reichte bis zu den Knien und wurde von einem breiten Lederband am Körper gehalten. Die Füße unter stark behaarten Beinen staken in einer Art Sandalen aus grobem Leder, auf dem noch die Borsten seines Besitzers erkennbar waren. Es war nicht leicht, dem Onkel auf dem Fuß zu folgen. Ungemein trittsicher brach er sich durch das Unterholz und hielt nur ein, um seinen Neffen das Aufholen zu ermöglichen. „Nicht mehr weit“, sagte er dann immer. „Nur noch ein, zwei Hügel.“ Irgendwann während einer längeren Pause fragte Kor seinen Onkel, warum in aller Welt er seine Brennöfen so weit weg von der Gemeinschaft errichtet hatte. „Ach weißt du, Junge“ – Onkel Urt sprach seinen Neffen zumeist mit „Junge“ an – „das Verarbeiten von Eisen, das hört sich leichter an, als es ist. Ich weiß schon, jeder bewundert uns Schmiede“, er lachte verschmitzt“. „Wie wäre ich sonst an deine Tante gekommen? Na?“ Da Kor ein Gesicht zog, als sei er von der Frage überfordert, ließ Urt das Thema sein und fuhr fort: „Erstens benötigt ein Brennofen, und ich habe deren fünf!, eine Unmenge Holz. Soll ich der Rungg-Gemeinschaft die Bäume nehmen, dass sie schlussendlich nackt und wehrlos dasteht? Das ist das eine. Das andere ist, dass meine Öfen Luftzug brauchen. Je mehr, desto besser. Darum hab e ich die Öfen mit dem Brennloch an die Waldkante gebaut und ringsum abholzen lassen. Das Dritte ist der Lehm. Du wirst schon sehen, die Öfen sind aus Lehm. Und der muss irgendwo in der Nähe zu finden sein, sonst transportiere ich ihn von wer weiß woher mühsam durch den Wald! Und dann ist da die Kohle. Du weißt das ja: Ohne Kohle gibt es keine ordentliche Hitze. Und für das Eisen brauche ich eine Wahnsinns Hitze. Nun gut, nicht soviel wie für Kupfer. Aber viel.“ Urt machte eine Pause. Er schien alle die Probleme, die mit der Eisenwirtschaft zusammenhingen, durch den Kopf mit den wirren krausen Haaren ziehen zu lassen. „Ja ja“, sagte er schließlich und knickte einen dürren Ast in viele Teile. „Wo kommt denn das Eisen überhaupt her?“, fragte Kor, und als Urt auflachte, dachte er, er hätte eine dumme Frage gestellt. „Bist ein schlaues Bürschlein“, sagte Urt verschmitzt und wuschelte seinem Neffen durchs Haar. „Das Eisen kommt als Erz daher. Das sind Steine, in denen das Eisen enthalten ist. Darum die viele Hitze und das ganze Drumherum.“ „Ich habe jetzt immer nur an das Formen des Eisens gedacht“, sagte Kor kleinlaut. „Ich habe gar nicht daran gedacht, dass man das Eisen erst herstellen muss! Ich habe geglaubt, das kannst du irgendwo einhandeln.“ „Das ist schon auch möglich“, sagte Urt. „Aber richtig Gewinn machst du erst, wenn du das Schmelzen selber machst.“ Alle die Punkte, die Urt als Voraussetzung fürs Schmiedehandwerk aufgezählt hatte, waren an dem Platz vereint, an den sie mittlerweile gekommen waren. Da tat sich am Rand eines Abhangs eine Lichtung auf, auf der kegelförmige Gebilde standen: Urts Brennöfen. Ein hagerer Mann war gerade dabei, einen Baum zu entasten. „Das ist Por, mein Gehilfe. He Por!“ Der Angesprochene hielt ein und musterte den fremden Besucher von oben bis unten. „He Urt!“ sagte er. „Und das da?“ „Mein Neffe“, meinte Urt kurz. „Er wird uns eine Zeitlang helfen.“ „Da. Er kann gleich anfangen“, knurrte Por, der von Urts guter Laune wenig abbekommen zu haben schien. „Da, pack an“, und er warf ihm sein Werkzeug vor die Füße. „Laaangsam, langsam“, mahnte Urt. „Erst wird einmal ein Rundgang gemacht.“ Urt zeigte seinem Neffen den Saumpfad hinunter zum Isark, von wo er das Eisenerz bezog. „Ab und zu kommen zwei Maultiere an und bringen mir Brocken von Brauneisenstein im Tausch mit fertigen Eisenstangen. Zwei Körbe Brauneisenstein gegen einen halben Korb Stangeneisen. „Verstehst du?“ fragte Urt, als er merkte, wie Kor angestrengt nachdachte. „Für die ganze Arbeit will ich auch einen Gewinn haben. Das steht mir doch zu. Dem Por muss ich für die Arbeit ja auch etwas abgeben, und den anderen Männern, die mir beim Abholzen und beim Kohlemachen helfen.“ Dann erklärte Urt, wie es dann weitergeht mit dem Brauneisenstein, der erst geröstet wird, dann zerkleinert und mit Holzkohle vermischt in einen Ofen kommt. Wenn alles stimmt und der Ofen heiß genug wird, bildet sich darin Eisenschlacke und Luppe. Die Luppe kann ich dann weiterverarbeiten. Ich komme aber nur dran, wenn ich den Ofen zerstöre. Verstehst du?“ fragte der Onkel. „Deshalb der Bedarf an so viel Lehm. Da drüben, komm mit“, sagte er und führte den Neffen, dem der Kopf schwirrte, hatte er sich bislang doch nur um Schafe und Landwirtschaft gekümmert. An einer besonderen Stelle sah Kor eine Grube mit feucht glänzendem Lehm. Das kannte er. Eine Lehmgrube gab es auch nicht weit von der Peterbühl-Gemeinschaft entfernt nahe beim Bach, der vom Opferberg kam. Ja, auch hier konnte mit einem bestimmten Verfahren der Rohstoff vor die Herstellung der Töpferware gewonnen werden: der Ton. Für heute war erst einmal genug. Urt hatte sich in eine Begeisterung hineingeredet, die Kor ansteckte. Trotzdem war er nun müde. Nichts als müde. Die Beiden machten sich auf den Heimweg und grüßten zu Por hinüber, der knurrend antwortete. Der Glänzende Gott hatte sich dem Horizont angenähert und war dabei, sich zur Ruhe zu legen. Urt kannte den Wald in- und auswendig. Kor hätte sich gnadenlos verlaufen. Die heraufziehende Dämmerung ließ einen kalten Luftzug durch den Wald fegen. Ab und zu war ein Knacken zu hören. „Nein, keine Angst“, lachte Urt, „die Wölfe haten sich zurückgezogen. Und Bären, die gibt es weiter unten im Tal. Das was du hörst sind Luchse und Füchse, Hirsche und Rehe.“ Dann kamen sie an den Wall, der die Rungg-Gemeinschaft beschützte und gingen an zahlreichen Häusern vorbei zur Behausung des Onkels, aus der ihnen die beiden Knaben entgegenliefen.
Obwohl Kor ein eher in sich gekehrter Junge war, war er seines ruhigen Wesens wegen von allen gern gesehen. So war es auch hier. Kor lebte sich rasch in die Gemeinschaft ein. Die Vorstellung beim Rat der Älteren in der Hütte der Ahnen, von denen Kors Anwesenheit in der Rungg-Gemeinschaft erlaubt werden musste, verlief in freundlichem Geist, wenn einer der Männer es auch nicht lassen konnte, die Peterbühl-Gemeinschaft etwas mitleidig aufs Korn zu nehmen: „Ich kann mir vorstellen, Kor, mein Junge“, sagte er verschmitzt und fuhr mit seiner Rechten durch den langen silbrigen Bart. „Ich kann mir gut vorstellen, dass es dir drüben auf dem Hügel ein wenig zu langweilig geworden ist. In deinem Alter, da will man doch etwas erleben, oder?“ Urt nahm es seinem Neffen ab, auf diese Stichelei angemessen zu reagieren. Er wusste, wie schwierig das für Kor sein würde, fremd wie er hier war. Deshalb sprach der Onkel für seinen Neffen: „Lieber Kar, wie recht du damit hast. Hast du nicht einmal erzählt, dass du in jungen Jahren unbedingt hinunter zur Stufels-Gemeinschaft wolltest, weil dir dieser Kupferhändler eingeredet hat, dass dort viel mehr los ist als hier auf Rungg?“ Ein breites Lächeln lag auf seinem bärtigen Gesicht und die Äuglein funkelten listig. Der Angesprochene kaute nachdenklich auf seinem Schnurrbart. „Ja ja, da wollen wir unseren Freund nicht enttäuschen und ihm etwas bieten. Seid ihr damit einverstanden, gute Männer?“ Alle hatten verstanden, dass der Schmied den einen von ihnen gutmütig auf dem Arm nehmen wollte. „Natürlich“, sagten sie. „Frag den Jungen, was wir ihm zeigen können, was es auf dem Peterbühl nicht gibt.“ „Na, Kor?“ fragte der Onkel. „Was würdest du gern sehen hier auf Rungg?“ Wie Kor sah, dass ihn, den Jungen, Fremden, alle so freundlich behandelten, fasste er Mut und sagte vorsichtig: „Das mit den Opferfeuern, das würde ich gern sehen. Davon wird überall herumerzählt.“ Und schüchtern setzte er hinzu: „Wenn es geht.“ Die Männer, die Urt und Kor gegenüber auf einer Bank am Feuer saßen, wurden still. Dann steckten sie die bärtigen Köpfe zusammen und beratschlagten sich halblaut. Kor fragte seinen Onkel flüsternd, ob das schon in Ordnung sei, das mit seiner Bitte. Ja, meinte Urt, das schon. Es sei allerdings etwas kompliziert. Nun hatten die Männer ihre Beratung beendet. Sie wandten sich an die Beiden, und der Älteste sagte ernst: „Urt, du kannst am besten einschätzen, ob dein Neffe dem gewachsen ist. Es hängt allein von dir ab.“ „Denke daran“, ergänzte ein anderer der fünf Männer des Rates, „dass das alles für einen Jungen seines Alters eine große Belastung darstellen könnte. Aber direkt abschlagen, das möchten wir seine Bitte nicht.“ „Auch, weil ja auch eure Gemeinschaft ab und zu an diesen Opferfeiern teilnimmt“, sagte einer, der bislang noch nicht gesprochen hatte. Urt dankte dem Rat für die Aufnahme seines Neffen und meinte, er würde die Angelegenheit mit ihm besprechen. Damit verabschiedeten sie sich und ließen die Männer, die einen heftigen Austausch aufgenommen hatten, in der Hütte der Ahnen zurück.
Die Zeit verging. Es wurde wärmer und wärmer, und manches Mal blieb die Feuerstelle im Haus kalt. Der Kuckuck rief, Vögel zwitscherten und die kleinen gerodeten Flächen zwischen den Häusern waren voll von Blumen und duftenden Kräutern, um die unzählige Wildbienen summten. De Junge aus der Peterbühl-Gemeinschaft hatte sich in der neuen Umgebung gut eingelebt und auch seine Sprache war nun so angepasst, dass ihn wohl niemand mehr al Angehörigen einer anderen Gemeinschaft wahrgenommen hätte. Er half seinem Onkel bei der Arbeit und stellte sich überaus geschickt an. Mit den beiden Knaben unterhielt er ein brüderliches Verhältnis. Besonders den kleineren, Stor, hatte er unter seine Fittiche genommen. Stor litt an einem Augenleiden, das nur selten vorkam, für die Familie aber eine große Last darstellte. Er konnte weiter entfernte Dinge nur unscharf wahrnehmen. Kor brachte dem Jungen bei, wie er seine Sehstärke mit Hilfe eines Sehschlitzes verbessern konnte, woraufhin der Junge von Haus zu Haus rannte und alle seine Kameraden aufforderte, ihm in einiger Entfernung Gegenstände hinzuhalten, die er dann zumeist richtig benennen konnte. Eine unglaubliche Freude im Hause Urt.
Kor hatte nicht vergessen, wie er bei seiner Einführung in die Rungg-Gemeinschaft in der Hütte der Ahnen von einem Mitglied des Rates sozusagen als Hinterwäldler bezeichnet worden war. Deswegen, weil er von der Peterbühl-Gemeinschaft kam. Umso mehr freute es ihn, und gleichermaßen auch seinen Onkel, als er dem Kupferschmied und Bronzegießer, um den handelte es sich nämlich, eine Erfindung nahebrachte, die in der Peterbühl-Gemeinschaft schon längst bekannt war, hier aber nicht zur Anwendung kam. Auch Urt staunte nicht schlecht, als Kor erklärte, wie man die Temperatur in den Schmelzöfen noch weiter erhöhen konnte. Von der Temperatur hing nämlich alles ab. Mit wenigen Strichen auf dem Erdboden zeichnete er einen Blasbalg, mit dessen Hilfe die Kraft des Feuers ungemein gesteigert werden konnte. Die Rungg-Gemeinschaft nutzte nur den natürlichen Aufwind, indem die Öfen so am Rand des Abhanges gebaut wurden, dass ein natürlicher Luftzug durch die Ofenöffnung fuhr. „Dein Blasbalg, der brennt doch ab, wenn ich zu nahe ans Schürloch komme! Das kann nicht funktionieren!“ sagte der Kupferschmied, der zu Kort gekommen war, um eine Fibel für Aja, Korts Frau, abzugeben. Er überlegte ein Weilchen und sagte dann kichernd: „Außer euer Feuer drüben auf dem Peterbühl ist sowieso nicht so heiß wie unseres. Wundern täte es mich nicht.“ Kor genoss die Situation. Zuerst lachte er zum Schein mit und tat so, als würde er sich geschlagen geben, sagte aber dann zu Urt: „Weißt du, Onkel, dieses Problem haben schon meine Vorfahren gelöst. Wir verwenden Düsen aus Ton. Die brennen nicht.“ So, das saß. Die nächsten Tage gingen die Schmiede daran, Blasbälge zu fertigen. Und, siehe da! Diese Methode kam bestens an. Nun konnte Urt ein reineres Eisen und eine größere Ausbeute erzeugen, und auch der Kupferschmied hatte Größe genug, bei einem der nächsten Zusammentreffen ein „Nicht übel, deine Idee“ zu knurren. Mit dem neuen Überschuss Eisen kam Kor endlich zu seinem Messer. Es hatte eine etwas andere Farbe und bestand aus einem reineren Material. Kor trug das Messer, das er als jemand, der die Mannbarkeitsprüfung bewältigt hatte, offen zur Schau stellen durfte, mit großem Stolz an seinem Gürtel. Nun war er wirklich ein vollwertiger, wehrfähiger Mann.
Es kam die Zeit, da Etan, der Gott mit dem strahlenden Gesicht und Rait, die Göttin mit dem leuchtenden Auge sich im Himmelspalast zum gemeinsamen Mahl treffen würden. Die Sieben Schwestern waren seit einiger Zeit wieder zu sehen und kündigten das Ereignis an. Die Rungg-Gemeinschaft genauso wie die Peterbühl-Gemeinschaft würden ein Fest feiern, ging es doch darum, dass Rait ihrem Bruder Etan nun für einige Zeit die Herrschaft überlassen würde. Wenn sich die himmlischen Götter friedlich darauf verständigten, würden die Lichtzeiten länger werden und die Feldfrüchte würden gedeihen. Die Rungg-Gemeinschaft feierte dieses Ereignis auf eine besondere Weise. Schon seit Tagen waren die jungen Männer der Gemeinschaft dabei, am nicht weit entfernten Opferplatz Vorkehrungen für das Fest zu treffen. Eine Unmenge Holz wurde geschlagen und aufgeschichtet, der große Steinaltar ausgebessert und gesäubert und es wurden zwei tiefe Gruben ausgehoben für die Ablagerung von Brandresten. Kor war die Unruhe, ja Nervosität aufgefallen, die in der Gemeinschaft unter den jungen Leuten herrschte und er glaubte zuerst, es handele sich um eine Art Vorfreude auf das Fest. Auch Urt war anders als sonst. Schweigsam ging er seiner Arbeit nach, übersah das und jenes und war oft abwesend, wenn Kor ihn etwas fragte. Irgendwann fragte Kor, ob er denn nun beim Fest mit dabei sein durfte, worauf sein Onkel nur kurz meinte, das sei leider von den Älteren abgelehnt worden. Er dürfe aber an der Feier der Bitten teilnehmen, nicht aber an der Opferfeier selbst. Kor war zwar traurig darüber, fügte sich aber in den Willen seines Onkels. Da die Rungg-Gemeinschaft über zahlreiche Mitglieder verfügte, waren Kor längst nicht alle Menschen vertraut. Er kannte nur die der benachbarten Häuser und hatte auch zu denen nicht mehr als einen flüchtigen Kontakt, wenn er mit seinem Onkel zu den Öfen ging oder in der Hütte der Ahnen, wo es seit einigen Tagen von Priestern wimmelte, ein Gebet verrichtete. Aus den Gesprächen der Menschen bekam er aber mit, dass es eine Auswahl gegeben haben musste. Als der Onkel aus der Hütte der Ahnen kam, erzählte er freudestrahlend, dass das Los die beiden Jungen verschont hatte. Alle jubelten, wollten Kor aber nicht verraten, wovon es sich dabei handelte. An diesem Tag wurden in der Ecke hinter der Feuerstelle einige Tongefäße abgestellt, die Honig, Milch und Rinderfett enthielten. Diese Gegenstände würden am dritten Tag der Göttin als Dank für ihren Rückzug geopfert werden. Aja legte eine Fibel auf einen Tonteller und zwei Bronzeringe, Urt einen eisernen Schaber und eine kleine unbearbeitete Eisenstange, Opfergaben für den Gott des strahlenden Lichts mit der Bitte um Wohlergehen, Kraft und Gesundheit.
Dann kam der Abend des ersten Festtages, des Tages der Bitten. Die Menschen der Gemeinschaft hatten sich gesäubert und hatten gereinigte Kleider angezogen. Die Frauen, auch Aja, trugen stolz ihre Armreifen, Ringe, geflochtene Gürtel und verzierte Fibeln, die Männer abenteuerliche Kopfbedeckungen und eine Bewaffnung mit Bronzedolch in einem metallbeschlagenen Gürtel, der das Wams aus weißer Wolle zusammenhielt. Die vornehmeren Mitglieder der Gemeinschaft versammelten sich in der Hütte der Ahnen. Im Hintergrund stand, beleuchtet von einer Vielzahl von Fettlichtern, die mannshohe Säule der Götter, deren eine Hälfte das Abbild der Göttin des leuchtenden Auges, die andere Hälfte das Bild des Gottes mit dem strahlenden Gesicht zeigte. Die Menschen saßen auf dem Boden, Kor neben den Mitgliedern seiner Gastfamilie. Flüsternd beantwortete er Stor, der neben ihm saß, dessen Fragen, wenn er etwas nicht deutlich erkennen konnte. Die Menschen, die in der Hütte der Ahnen keinen Platz gefunden hatten, saßen außerhalb rings um die Hütte. Eine große Anzahl von Männern und Frauen jeden Alters. Dazwischen hockten Kinder mit leuchtenden Augen und erwartungsvollen Gesichtern. Dann kamen drei Priester hinter der Säule der Götter hervor. Sie waren an den eigentümlich geschnittenen weißen Wollgewändern und den rasierten Köpfen deutlich zu erkennen. Sie setzten sich etwas erhöht auf einen Holzstamm und stimmten einen monotonen Gesang an, der aus vielen Wiederholungen bestand. Die Menschenmenge begann sich hin- und herzuwiegen und antwortete auf die vorgetragenen Bittgesänge mit immergleichem Refrain. Die Luft in der Hütte war warm und stickig. Die Fettlampen flackerten langsam. Der Gesang war wie ein brausender Chor, der immer mächtiger wurde und den langsam dunkler werdenden Himmel erfüllte. Nach einiger Zeit schien es Kor, als würde er Teil dieses Brausens und würde sich mit alle den Stimmen und Gebeten in Raits Palast wiederfinden. Die Göttin schaute ihn huldvoll an. Ein leises Lächeln schien auf ihrem Gesicht zu erstrahlen. Als Kor seine Arme nach ihr ausstrecken wollte, brach der Gesang plötzlich ab. Kor schlug verwirrt die Augen auf und wurde gewahr, wo er sich befand. Einer der Priester hatte sich erhoben. Die Anwesenden folgten mit den Augen den sicheren Bewegungen, mit denen der Priester die Säule der Götter umfasste und sie so drehte, dass das Antlitz des Gottes mit dem strahlenden Licht den Anwesenden zugewandt wurde. Die beiden anderen Priester stellten sich mit einer Fackel in der Hand links und rechts von der Säule auf, und gemeinsam begannen die drei Priester, den Gesang des Überganges anzustimmen. Als die Menschen, die sich in der Hütte der Ahnen befunden hatten, ins Freie entlassen wurden, um dort mit den Übrigen zu feiern, sah Kort, der noch halb betäubt war von der eindrucksvollen Zeremonie, dass draußen und zwischen den Häusern kleine Feuerstellen brannten, um die sich Gruppen von Menschen versammelten und mit Trommeln und Knochenflöten Musik machten. Es war ein ausgelassenes Singen und Feiern. Kor hatte Stor an der Hand, der seinerseits die Hand des kleinen Urt umklammert hielt. Die Eltern waren irgendwo beim Feiern. Kor sah amüsiert, wie der plumpe Körper seines Onkels um ein Feuer hüpfte, die Arme nach oben gereckt. Seine Augen rollten furchterregend. Der Schmied stieß wilde Laute aus, wozu die Übrigen lachten und brüllend Beifall klatschten. Da zeigte einer zum Himmel und stieß seine Nachbarn aufgeregt an: Die Göttin mit dem leuchtenden Auge war hinter einer schwarzen Wolke hervorgetreten und spendete den Feiernden ihr Licht. Sie hatte eingewilligt, sich langsam zurückzuziehen und sich für die nächste Zeit mit einem kleineren Anteil am Himmelslicht zufrieden zu geben. Ein Dankesgebet aus tausend Kehlen schallte nach oben. Langsam löste sich die Menschenmenge auf, und auch Urt‘s Familie suchte ihre Behausung auf. Aja hatte Feuer gemacht. Im Eisenkessel, der über dem Feuer hing, blubberte es hörbar. Wie Kor seine Tante kannte, hatte sie eine Menge frischer Kräuter ins Essen gemischt. Das schmeckte richtig, richtig lecker! Jeder bekam eine Schale mit Getreidebrei, und der Krug mit Wasser machte die Runde. Das war ein gemütliches Schmatzen und Schlurfen in trauter Runde. Während sich die Großen unterhielten, waren die beiden Knaben nach dem Essen auf ihrem kuscheligen Schaffell hinter der Feuerstelle kurzerhand eingeschlafen. „Was für ein Fest!“, rülpste Urt zufrieden. „Was sagst du dazu?“ fragte Aja Kor. „Ihr von der Peterbühl-Gemeinschaft feiert dieses Fest ja auch. Ich weiß das ja. Ich bin ja immer noch ein bisschen eine von euch!“ Sie lächelte Kor an und wuschelte durch sein Haar. Wie wohl sich der Junge doch hier fühlte. Was für ein gemütliches Zuhause!
Am nächsten Morgen schienen Tante und Onkel ernster als sonst, und auch in den umliegenden Behausungen der Rungg-Gemeinschaft herrschte ungewohnte Stille. Kor bekam die Anweisung, zur Lichtung zu gehen und den Kohlemeiler zu kontrollieren. Er sollte danach schauen, ob das Feuer nicht erstickt war. Der Luftzug ließ sich über Öffnungen in der mit Erde und Rasenstücken bedeckten Pyramide steuern. War der Luftzug zu stark, würde das Feuer unter dem Mantel zu rasch brennen. Dann wäre die Kohle von minderer Qualität. War der Luftzug hingegen zu gering, würde das leise vor sich hin glimmende Feuer ersticken und es käme zu keiner Kohlebildung. Weine verantwortungsvolle Arbeit! Der Kupferbrenner hatte seinen Kohlemeiler einen Steinwurf von dem von Urt entfernt. Kor ging deshalb an seinem Haus vorbei und wollte anbieten, beim Kohlemeiler nach dem Rechten zu sehen. Als er in den gewinkelten Zugang zum Haus einbog, hörte er von drinnen ein heftiges Weinen und Klagen. Eine Männerstimme versuchte, offenbar vergeblich, eine verzweifelte Frau zu beruhigen. Kor entfernte sich eingeschüchtert und nahm den Weg in den Wald. Er würde den Meiler des Kupferschmieds auch so kontrollieren. Da war etwas Schlimmes im Gange, befürchtete er. Weinen und Klagen waren weder in der Peterbühl-Gemeinschaft noch hier auf Rungg an der Tagesordnung. Die Leute waren es gewohnt, dass schlimme Dinge und belastende Ereignisse eintrafen. Krankheit, Not und auch Tod waren ständige Begleiter und wurden als gegeben hingenommen.
Urt blieb dabei. Kor durfte nicht zur Opferfeier, auch wenn er sich das sosehr wünschte. Es rankten sich nämlich richtiggehende Legenden darum. Es war schon lange her, dass jemand von der Peterbühl-Gemeinschaft an einer solchen Zeremonie teilgenommen hatte, und Aja, die Eingeweihte, schwieg wie ein Grab, wenn sie darauf angesprochen wurde. Das Wenige, das da und dort hinter vorgehaltener Hand erzählt wurde, war so entsetzlich, dass es keiner glauben mochte. Man hielt alles für Erfindung oder üble Nachrede. Das Verschwinden des einen oder anderen Mitglieds der Gemeinschaft ließ sich leicht durch die Tat wilder Tiere erklären.
Zur Zeit der Abenddämmerung fing es an. Die Mitglieder der Gemeinschaft strömten mit Lichtern in den Händen in Richtung des Opferaltars. Auch Aja und Urt zogen los. Sie packten die Opfergaben, die sie im hinteren Eck des Wohnraumes gesammelt hatten, in ein Tuch. Am Zugang zur Behausung ließen sie zwei Fackeln zur Abwehr von Geistern brennen. Die beiden Knaben wurden der Obhut einer Nachbarin übergeben, die wegen eines schlimmen Leidens an der Wirbelsäule in ihrer Behausung bleiben musste. Kor sollte noch einen Rundgang zum Kohlemeiler machen. Trommeln dröhnten auf, stark und rhythmisch, während die Dunkelheit über die Wallburg fiel. Vergebens wartete Kor auf die Göttin mit dem leuchtenden Auge. Sie wollte sich heute nicht zeigen. Die Sieben Schwestern hingegen zeigten sich auf der klaren, blauschwarzen Wölbung der Wohnung der Götter, zusammen mit unzähligen anderen Lichtern. Die Trommeln dröhnten unentwegt. Es war ein bedrohliches, unheilversprechendes Geschehen. Dann sah Kor, nachdem er von seinem Gang zurückgekehrt war, einen düsteren Feuerschein aufleuchten. Lautes Knacken und Prasseln bewies, dass es sich um Opferfeuer ungeheuren Ausmaßes handeln musste. Und dieses ständige Dröhnen, das einmal anschwoll und dann wieder verebbte. Dann Stimmen aus vielen Kehlen. Kort konnte sich nicht mehr halten. Das Verbot seiner Pflegeeltern übertretend, nahm er eine der beiden Fackeln aus der Halterung und machte sich auf den Weg zum Opferplatz. Kein Mensch begegnete ihm. Offenbar waren alle schon längst dort. Das Dröhnen wurde immer lauter, und das zuckende Licht großer Feuerkästen wies ihm den Weg. Dann war er da. Eine unüberschaubare Menschenansammlung umstellte den Opferplatz. Unübersehbar ragte der Opferstein über alle Köpfe hinweg aus dem Boden. Stufen führten hinauf zur Plattform, die in rotem Licht erstrahlte. Weißgekleidete Priester machten sich am Altar zu schaffen. Einer der Priester brachte eine große, flache Schüssel aus Ton und stellte sie unter den Altar. Die Trommeln! Kor suchte nach den Männern, die die Trommeln schlugen. Dann sah er sie, eine Anzahl von Männern mit nackten Oberkörpern, auf denen Kor eigenartige, mit roter und weißer Farbe gemalte Muster erkannte. Die Menge murmelte aufgeregt. Dann schauten die Menschen in eine bestimmte Richtung und stießen sich an. Wehklagen war zu hören. Das Weinen einer Frau, unterdrücktes Schreien. Plötzlich erstarb das Trommeln. Einer der Priester hatte sich hinauf zur Plattform des Altars begeben. Zwei weitere Priester hoben die Tonschale auf. Dann dröhnte die Stimme eines Priesters. Unruhe im Hintergrund. Dann sah Kor, wie zwei Priester eine sich sträubende Gestalt in Richtung des Altars schleiften. Der Priester, der sich oben am Altar befand, hob den Arm zum Himmel und rief einige beschwörende Worte. Trommelschläge. Dann wurde die Gestalt hinauf zum Altar gezogen. Kor wollte das Herz stehen bleiben. Er sah, dass es Tori war, der Sohn des Kupferschmieds. Die Priester zwangen ihn mit dem Oberkörper auf die Steinplatte. Die Trommeln stellten ihr Dröhnen ein. Der Priester hob den Arm. In seiner Hand blitzte ein Messer. Er senkte den Arm und schnitt dem Jungen mit einer zischenden Bewegung die Kehle durch. Ein Schrei aus tausend Kehlen. Die Trommeln schlugen einen schrecklichen Wirbel, während die beiden Priester das Blut des Geopferten mit der Schale auffingen. „Ihr Götter“, rief der Opferpriester zum Himmel empor. „Nehmt dieses Opfer mit Wohlgefallen auf und schenkt unserer Gemeinschaft eine Zeit des Wachstums und Wohlstandes, eine Zeit ohne Verletzungen, Krankheiten und Überfälle. Die Familie des Geopferten möge gewiss sein, dass ihr Opfer zum Wohl der Gemeinschaft erbracht worden ist.“ Der Priester verstummte. Der Körper des Geopferten wurde vom Altar genommen und auf einem nahen Holzstoß zu Asche verbrannt. Bis dahin war Kor wie versteinert dagestanden. Dann kam er langsam zu Bewusstsein. Ihn würgte. Wie sehr er nun verstand, warum der Onkel ihn an dieser Opferfeier nicht teilnehmen lassen wollte. Er wollte ihm Schlimmes ersparen. Die Trommeln hatten wieder angefangen in tödlichem Rhythmus zu dröhnen. Als Kor bemerkte, dass sich das schaurige Schauspiel nun wiederholen würde, flüchtete er ins Dunkel und stolperte zurück zu Urt’s Haus. Als Kor durch den Zugang ging, erlosch die Fackel. Wie Tori’s Leben, dachte Kor erschauernd. Was für ein grausames Geschehen! Er suchte seine Schlafstelle auf und rollte sich in sein Fell. An Schlaf war aber nicht zu denken.
Es blieb nicht aus, dass das Geschehen des gestrigen Abends im Haus Urt’s angesprochen wurde. Es war Aja, die Kors Verstörung bemerkte und ihn direkt ansprach: „Du bist gestern also doch zur Opferung gegangen.“ Es war sinnlos, dass Kor leugnete. Aja versuchte dem Jungen zu erklären, dass die Götter ohne Menschenopfer Unheil bringen, oder es zumindest nicht verhindern würden. Alle sieben Jahre würden Menschen geopfert werden, abwechselnd einmal ein junger Mann, dann ein junges Mädchen. Und ja, es stimmte, dass auch die Peterbühl-Gemeinschaft sich ab und zu an diesen Zeremonien beteiligten. Es würde dort nur nicht darüber gesprochen. Alles würde so abgewickelt, dass die nicht Eingeweihten glauben konnten, es handele sich um einen Unglücksfall. Urt war nicht böse, dass sein Neffe sein Verbot missachtet hatte. „Früher oder später wärst du sowieso draufgekommen“, sagte er bei der Arbeit am Kohlemeiler. Auf Kors Nachfrage erklärte er ihm, dass die Weihegeschenke am dritten Tag zum Altar gebracht und dort geopfert worden seien. Zum Zeichen, dass es sich um Geschenke an die Götter handelte, wurden die Gefäße zerschlagen und die Metallgegenstände durch Verbiegen unbrauchbar gemacht. Zusammen mit den Brandresten seien diese Weihegaben in Gruben nahe am Altar versenkt worden.
Kor erhielt die Erlaubnis, in der Rungg-Gemeinschaft zu bleiben. Er wurde ein tüchtiger Schmied, der mit seinem Onkel gleichberechtigt zusammenarbeitete.
Diese Geschehnisse erzählte Kor in hohem Alter seinen Enkelkindern und auch, wie es ihm gelungen war, durch viel Überzeugungsarbeit seine Gemeinschaft dazu zu bringen, auf Menschenopfer zu verzichten. Die Götter hatten sich bis dahin nicht gerächt und schienen diese Entscheidung zu billigen.